2012/08/14

Nochmal: Wessen Kinder sind es?

Man könnte es als unfreiwilligen Kommentar zum letzten Blogeintrag verstehen, was gestern früh im Waisenhaus passierte: Zwei Geschwister sind verschwunden, 12, 13 Jahre alt. Was ist geschehen?
Wie immer begannen die beiden, Bruder und Schwester, den Tag gemeinsam mit allen anderen. Als sie zur Schule gehen sollten, waren sie nicht mehr auffindbar. Ein Bauarbeiter, der im Waisenhaus arbeitet, sagte später, er habe auf dem Chapa-Taxi einen fremden Mann mit zwei Kindern gesehen. Als das Taxi zufälligerweise vor dem Waisenhaus hielt, habe der Mann den Fahrer zur Eile getrieben: Hier könne er keinesfalls halten. Er müsse auf schnellstem Weg nach Morrumbene und dann weiter nach Beira!

Ein typisches Chapa-Taxi, etwa halb gefüllt mit Schülerinnen und Schülern aus Cambine

Weitere Nachforschungen ergaben, dass jener Fremde bereits in der vergangenen Woche in Cambine aufgetaucht war. Er habe mit den Kindern auch schon gesprochen gehabt, wohl in der Schule oder auf dem Weg dorthin. Wir vermuten stark, dass es sich bei jenem Mann um den Vater der Geschwister handelt. Er war kürzlich aus dem Gefängnis entlassen worden. Wenig später hat er beim Jugendamt versucht, das Sorgerecht für seine Kinder zu bekommen. Das wurde abgelehnt, weil er weder eine feste Wohnung noch irgendein Einkommen nachweisen konnte. Nun hat er möglicherweise die Beiden illegal zu sich geholt.
Noch am selben Vormittag hat Direktorin Maravilha das Jugendamt und die Polizei informiert. Die haben heute den Chapa-Fahrer verhört – und in Gewahrsam genommen. Unser Kollege Chico hatte ihn gebeten, als Zeuge auszusagen. Wir wissen es nicht, aber vieles deutet darauf hin, dass der Fahrer nur einfach seine Arbeit machte und nicht in die Entführung verwickelt ist. Menschen von Cambine an die Hauptstraße bringen, damit verdient er sein täglich Brot. Trotzdem sitzt er erst mal im Knast. 
Und jener Fremde ist auf und davon - mit den beiden Kindern. Was wird er mit ihnen vorhaben? Will er sie wirklich nur bei sich haben? Wir sind sehr besorgt um die beiden. 
Nein, die Kinder im Waisenhaus sind nicht unser Eigentum. Aber genau so wenig gehören sie jemand anderem, selbst wenn es der biologische Vater sein sollte. Auch er darf nicht einfach über sie verfügen!

2012/08/12

Eure Kinder sind nicht eure Kinder

Wie oft musste ich in den vergangenen Jahren an diese Worte des Dichters Khalil Gibran denken? Sie begleiten mich schon lange. Wir haben sie auf der Geburtsanzeige unseres ersten Sohnes zitiert. Das war vor über dreißig Jahren. - „Unser“ erster Sohn? Ja, wir haben viel gemeinsam erlebt. Wir haben uns auseinandergesetzt und zusammengerauft. So sind wir zu dem geworden, was wir heute sind: er unser Sohn und wir seine Eltern. Und das ist vielmehr als nur eine rein biologische Gegebenheit. Inzwischen geht er schon lange seine eigenen Wege. Gerade vorhin erhielt ich eine SMS von ihm – aus dem Nepal, wo er ein Praktikum absolviert. Vielleicht ist es gerade dieses vertrauensvolle Loslassen, dieses „auf-eigene-Wege-Entlassen“, das uns nachhaltiger als alles andere miteinander verbindet – auch wenn wir einander längst nicht immer verstehen oder gegenseitig gutheißen, was wir tun.

Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Wie oft musste ich in den vergangenen Tagen an diese Worte denken? Vierundsechzig Kinder und Jugendliche leben derzeit im Waisenhaus Cambine und keines von ihnen ist unser Kind. Irgendwie sind sie es aber doch. Alle. Sie sind uns anvertraut. Wir sind dafür verantwortlich, dass sie bekommen, was sie zum Heranwachsen brauchen. Und doch: Nicht alle von ihnen sind Vollwaisen. Gerade von den Jüngeren, die lange nach Kriegsende 1992 ins Waisenhaus kamen, haben viele Angehörige. Vielfältig sind die Gründe, aus denen die Kinder trotzdem ins Waisenhaus kommen. Nicht alle sind stichhaltig. Deshalb prüft die Sozialbehörde in Abständen, welche Kinder mit ihrer Familie „wiedervereinigt“ werden können. Sechs Kinder und Jugendliche haben im letzten Jahr auf diese Weise das Waisenhaus verlassen.

Zum Beispiel das Mädchen G. Es kam als Neugeborenes in Waisenhaus. Die Mutter war bei der Geburt gestorben. Der Vater arbeitete irgendwo in Südafrika und hatte keine Möglichkeit, sich um seine Tochter zu kümmern. Jetzt ist G. zwölf und wurde wiedervereinigt mit „ihrer“ Familie. Ihr Vater ist krank. So kam sie in das Haus ihres Onkels. G. ist in ihrer neuen Situation ganz offenkundig unglücklich. Sie ist nicht mehr das Kind, das wir im Waisenhaus kennenlernten. Was geschieht in dieser Familie? Wir wissen es nicht. Doch die beiden Besuche, die wir vom Waisenhaus begleiten konnten, zeigen uns ein tief verunsichertes Kind. Sie kann uns nicht gerade in die Augen schauen. Mehr als einige genuschelte Worte bekommen wir nicht von ihr hören. Das alles weckt in uns sehr beunruhigende Phantasien. 

Direktorin Maravilha hat die Sozialbehörde wiederholt auf unsere Beobachtungen aufmerksam gemacht. Dort gibt es eine Verantwortliche für den gesamten Distrikt. Sie hat sich um Waisenkinder genau so zu kümmern wie um kranke und alte Menschen. So ist es bisher offenbar noch immer nicht zu dem unangekündigten Besuch in G.'s Familie gekommen. Freunde und Partner des Waisenhauses, auch wir selber, haben inzwischen an die Bischöfin geschrieben und sie gebeten, sich für G. einzusetzen. Hoffen wir, dass bald etwas Entscheidendes geschieht, das es G. wieder leichter macht, ihren Blick zu heben und uns wieder ins Gesicht zu schauen.

G. gehört uns nicht. Sie ist nicht unser Kind, zweifellos. Rein rechtlich sind wir als Waisenhaus nicht mehr für ihr Ergehen verantwortlich. Und doch: Wir haben zu viel gemeinsam erlebt. Da zählen nicht nur Paragraphen.



Von den Kindern

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch Euch aber nicht von euch,
und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen.
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen,wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen Eure Kinder als lebende Pfeile abgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Lasst Euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

Khalil Gibran (1883 – 1931)
Der arabische Schriftsteller war maronitischer Christ und lebte viele Jahre in Europa und den USA.