Vom Platz an der Sonne
Es ist ein großes Fest, wenn
alljährlich in Eisenach der Sommergewinn gefeiert wird. Der Winter
wird ausgetrieben und der Sommer wird eingeholt. Herr Winter und Frau
Sunna liefern sich ein Streitgespräch. Und immer gewinnt die
Sonne. So wie eben im Frühling die Wärme und das Licht den kalten
und dunklen Winter besiegen. Und je länger und unangenehmer der
Winter war, um so größer ist für den Mittel- oder Nordeuropäer
die Sehnsucht nach einem Platz an der Sonne. Er ist der Inbegriff des
Erstrebenswerten. Auf der Schattenseite des Lebens möchte dagegen
keiner gerne länger bleiben müssen.
Ein Sprichwort wie das folgende wird in
Europa deshalb zwangsläufig als Gemeinheit verstanden: „Ich kann
nicht verhindern, dass die Sonne scheint. Aber ich kann dafür
sorgen, dass mein Nachbar im Schatten sitzt.“ - Doch das ist ein
Missverständnis. Das Kalenderbild für März zeigt, warum. Das
Sprichwort hat seinen Ursprung im Süden dieser Welt, dort wo die
Sonne viel häufiger und viel stärker scheint als im Norden. Was im
Norden ein Platz an der Sonne ist, ist hier im Süden ein
Schattenplatz.
Das Foto ist in einem Gottesdienst
unter freiem Himmel entstanden. Man sieht, dass der Schatten fast
senkrecht fällt. Die Gemeinde versammelt sich unter einem großen
Baum. Doch weil sich die Erde dreht und ein afrikanischer
Gottesdienst selten kürzer als drei Stunden dauert, bewegt sich der
Schatten spürbar weiter. Wer grade noch im Kühlen saß, fängt auf einmal an zu
schwitzen – und sucht sich einen anderen Platz. Wenn möglich.
Dafür zu sorgen, dass mein Nachbar im Schatten sitzt, das ist hier
in Afrika ganz und gar keine Gemeinheit. Das ist eine große
Gefälligkeit, die ich jemandem tun kann!
Ich habe an diesem Beispiel gelernt,
wie sehr sich unsere nördliche von der südlichen Kultur
unterscheidet. Und dass diese Differenzen oft klimatische
Ursachen haben. Die berühmte Siesta zum Beispiel. Wer in Deutschland
könnte es sich erlauben, eine so ausgiebige Mittagspause einzulegen? Und wer unter der heißen Sonne des Südens könnte es
sich wohl erlauben, sie nicht zu halten?
Oder ein anderes Beispiel: Im Ausland
stehen Deutsche häufig in dem Ruf, sehr vorausschauend und zielstrebig
an Aufgaben heranzugehen. Abgesehen davon, dass das ja auch nicht immer
zutrifft, ist uns das jedenfalls nicht angeboren. Wir haben es über viele
Generationen hinweg gelernt. Der nächste Winter kam bestimmt und wer nicht
Vorsorge traf, wusste nicht, ob er den neuen Frühling noch erleben
würde. Ich bin mir sicher: Könnten wir wie im Süden auch in
deutschen Gärten rund ums Jahr irgend etwas ernten, um zu überleben,
unsere Kultur wäre eine andere.
Also nicht gleich schimpfen, wenn dich jemand in den Schatten stellt. Es könnte sein, er meint es gut mit dir!