Eure
Kinder sind nicht eure Kinder. Wie oft musste ich in den vergangenen
Tagen an diese Worte denken? Vierundsechzig Kinder und Jugendliche
leben derzeit im Waisenhaus Cambine und keines von ihnen ist unser
Kind. Irgendwie sind sie es aber doch. Alle. Sie sind uns anvertraut. Wir sind
dafür verantwortlich, dass sie bekommen, was sie zum Heranwachsen
brauchen. Und doch: Nicht alle von ihnen sind Vollwaisen. Gerade von
den Jüngeren, die lange nach Kriegsende 1992 ins Waisenhaus
kamen, haben viele Angehörige. Vielfältig sind die Gründe,
aus denen die Kinder trotzdem ins Waisenhaus kommen. Nicht alle sind
stichhaltig. Deshalb prüft die Sozialbehörde in Abständen,
welche Kinder mit ihrer Familie „wiedervereinigt“ werden
können. Sechs Kinder und Jugendliche haben im letzten Jahr auf
diese Weise das Waisenhaus verlassen.
Zum
Beispiel das Mädchen G. Es kam als Neugeborenes in Waisenhaus. Die
Mutter war bei der Geburt gestorben. Der Vater arbeitete irgendwo in
Südafrika und hatte keine Möglichkeit, sich um seine Tochter zu
kümmern. Jetzt ist G. zwölf und wurde wiedervereinigt mit „ihrer“
Familie. Ihr Vater ist krank. So kam sie in das Haus ihres Onkels. G. ist in ihrer neuen Situation ganz
offenkundig unglücklich. Sie ist nicht mehr das Kind, das wir im
Waisenhaus kennenlernten. Was geschieht in dieser Familie? Wir wissen es nicht. Doch die beiden Besuche, die wir vom Waisenhaus
begleiten konnten, zeigen uns ein tief verunsichertes Kind. Sie kann uns
nicht gerade in die Augen schauen. Mehr als einige genuschelte Worte bekommen wir nicht von ihr hören. Das alles weckt in
uns sehr beunruhigende Phantasien.
Direktorin Maravilha hat die
Sozialbehörde wiederholt auf unsere Beobachtungen aufmerksam
gemacht. Dort gibt es eine Verantwortliche für den gesamten
Distrikt. Sie hat sich um Waisenkinder genau so zu kümmern wie um
kranke und alte Menschen. So ist es bisher offenbar noch immer nicht
zu dem unangekündigten Besuch in G.'s Familie gekommen. Freunde und
Partner des Waisenhauses, auch wir selber, haben inzwischen an die
Bischöfin geschrieben und sie gebeten, sich für G. einzusetzen.
Hoffen wir, dass bald etwas Entscheidendes geschieht, das es G.
wieder leichter macht, ihren Blick zu heben und uns wieder ins
Gesicht zu schauen.
G.
gehört uns nicht. Sie ist nicht unser Kind, zweifellos. Rein
rechtlich sind wir als Waisenhaus nicht mehr für ihr Ergehen
verantwortlich. Und doch: Wir haben zu viel gemeinsam erlebt. Da zählen nicht nur
Paragraphen.
Von
den Kindern
Eure
Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch Euch aber nicht von euch,
und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen.
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen,wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen Eure Kinder als lebende Pfeile abgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Lasst Euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch Euch aber nicht von euch,
und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen.
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen,wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen Eure Kinder als lebende Pfeile abgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Lasst Euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.
Khalil
Gibran (1883 – 1931)
Der
arabische Schriftsteller war maronitischer Christ und lebte viele
Jahre in Europa und den USA.
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