2011/10/08

Was bin ich?

Es heißt: Kinder lernen mehr am Beispiel der Erwachsenen als an deren Worten. Anders gesagt: Was sie sind, hat mehr Gewicht, als was sie sagen. Groß ist die Verantwortung, die uns allen daraus erwächst. Und längst nicht immer werden wir ihr gerecht. Wie Saint-Exupéry im „Kleinen Prinzen“ schreibt: „Ich bin viel mit Erwachsenen umgegangen und habe Gelegenheit gehabt, sie ganz aus der Nähe zu betrachten. Das hat meiner Meinung über sie nicht besonders gut getan.“

Was also sind wir? Oder besser: Wer sind wir? Und noch genauer: Wer bin ich? Wie nehmen mich die Kinder wahr, zum Beispiel die im Waisenhaus? Wer bin ich für sie? Und was lernen sie an dem, was ich bin? - Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Ich hoffe aber, dass ich ihnen etwas vermitteln kann: Wertschätzung zuerst und Zuwendung, doch auch Begrenzung und die Erfahrung, dass alles Tun und Lassen Konsequenzen hat, im Guten wie im Bösen.

Das alles erfordert natürlich auch Worte, die wir miteinander wechseln, aber eben nicht nur. Die Kinder haben ein Recht darauf, dass unser Verhalten nicht Lügen straft, was wir sagen. Und darauf, dass unsere Worte nicht mehr versprechen, als wir halten wollen oder können. An dieser Stelle können Kinder sehr aufmerksam sein. Und manchmal reagieren sie gnadenlos.

Mir scheint, gerade in dieser Gnadenlosigkeit liegt eine Chance. Kinder, die mich an meine Grenzen bringen, stellen mich unabweisbar vor die Frage: Wer bin ich für sie? Warum behandeln sie mich so? Empfinden sie, dass nicht zusammen passt, was ich sage und was ich bin? Oder anders herum: Schreit, was ich bin, vielleicht so laut, dass sie gar nicht mehr hören können, was ich sage? Übertönt die unmöglich zu verbergende Tatsache, dass ich ein 'mulungu' bin, ein Weißer, ein reicher Europäer, womöglich alles andere, was ich sage oder tue? Nicht selten wird das so sein. Und viel zu oft bin ich mir dessen nicht bewusst.

Zum Beispiel: Luis. Wir kennen einander nicht besonders gut. Manchmal wechseln wir einige Worte miteinander. Luis ist Elektriker und wohnt etwas außerhalb in einem Haus ohne Stromanschluss. Jetzt könnte er von einem Nachbarn eine große Solar-Paneele kaufen. Er hat dafür aber kein Geld. Kann ich ihm verübeln, dass er den Wunsch hat, die Stromversorgung seines Hauses zu verbessern? Kann ich ihm verübeln, dass er in mir zuerst den Menschen sieht, den er um Geld bitten kann? Und wie wird er mich wahrnehmen, wenn ich ihm sage, dass wir kein Geld mehr verleihen? Wie sollte er verstehen können, dass wir mit europäischen Maßstäben gemessen, nicht zu den Reichen gehören?

Ein anderes Beispiel: Neulich veranstalteten US-Missionspartner eine Ferien-Bibel-Schule für die Kinder von Cambine. Das war eine gute Sache. Zweimal am Tag kamen bis zu 70 Kinder in die Kirche. Dort waren Erwachsene, die sich Zeit für sie nahmen, die ihnen biblische Geschichten erzählten, mit ihnen sangen, bastelten und spielten. Wo erleben sie das sonst in ihrem Alltag? Und doch: Es kam alles so bunt und amerikanisch daher, als sei die Bibelwoche von Walt Disney gesponsert worden.

Vacation Bible School

Dafür, dass ich Europäer oder Amerikaner bin, kann ich nichts. Auch dafür, dass ich mit mosambikanischen Maßstäben gemessen, wohlsituiert und privilegiert bin, kann ich nichts. Es ist die Realität, in der wir leben. Sie gibt mir überhaupt erst die Möglichkeit hier zu sein. Ich muss mich deshalb nicht ständig dafür entschuldigen. Aber ich muss mir dessen bewusst sein, wo ich in dieser Realität stehe und wer ich bin – in meinen Augen und in den Augen meiner Nachbarn, in deren Welt ich für eine Weile zu Gast bin. Vielleicht habe ich dann eine Chance, dass, was ich bin, nicht allzu laut schreit.

1 Kommentar:

  1. Ich habe Ihren Beitrag mehrmals gelesen und werde das sicherlich auch noch mehrmals tun. Ich finde, er verdient es, so verlinkt zu werden, daß er auch in anderen Foren angeklickt werden kann.
    Wenn ich von meiner 14-jährigen Erfahrung ausgehe, muß ich sagen, daß das Problem für mich eigentlich nie bestand. Zumindest bin ich mir nie bewußt gewesen, als "mulungu" angesehen zu werden. Vielleicht liegt das daran, daß mein Kontakt auf 1 Familie fokussiert ist, ich bei meinen Besuchen unter dem gleichen Wellblechdach wie meine Gastgeberfamilie wohne, das gleiche Klo benutze, den Xima mit den gleichen Löffeln von den gleichen Tellern esse, den Tee aus den gleichen Tassen trinke und bei Stromabschaltungen genauso leide wie sie. Und wenn ich dann noch durchsetze, daß die Kinder frühstücken, bevor sie in die Schule gehen, und nach der Schule Recht auf ein bißchen Freizeit haben und nicht bis spät abends von den sich auf der Matte räkelnden Erwachsenen herumgescheucht werden, habe ich die Kinder sowieso auf meiner Seite.
    In einer Einrichtung mit einem dazugehörenden Waisenhaus stelle ich mir das wesentlich komplizierter vor. Die meisten der Kinder sind wirkliche Waisen, andere wurden nur abgegeben, jedes Kind hat einen anderen Hintergrund, ist mehr oder weniger traumatisiert und kontaktfreudig.

    Was das Foto von der Vacation Bible School angeht, so hätte man als Sponsor sicherlich auch McDonalds vermuten können. Und manches der Kinder wird gedacht haben, daß bei den Amerikanern matapa, nhangana, hortaliça, cacana usw. (d.h. Pflanzen, die für die Bereitung eines sogenannten "caril" verwendet werden, um Reis und Xima unterschiedliche Geschmacksnoten zu verleihen) wesentlich nahrhafter sein müssen.

    Viele Grüße aus Mügeln bei Oschatz in Sachsen

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