2013/12/09

9. Dezember

Land der Sehnsucht
Nehmen wir einmal an, wir lebten in einem Land, in dem Krieg und Terror herrschen.
Nehmen wir einmal an, wir könnten uns unseres Lebens nicht mehr sicher sein und der Tod lauere uns überall auf.
Nehmen wir einmal an, es wären die Kinder aus unserer Familie, die auf der Flucht sind, ängstlich, verwaist, traumatisiert, orientierungslos.
Nehmen wir einmal an, wir lebten in Syrien - was würden wir machen? Würden wir nicht auch unserer Sehnsucht folgen, die keineswegs purer Abenteuerlust oder reinen Wohlstandsgelüsten entspringt, sondern vielmehr der Angst ums nackte Überleben? Würden wir nicht auch in ein Land fliehen wollen, in dem wir uns sicher fühlen können?
Nehmen wir einmal an, es gäbe ein Land, in dem sich jeder an folgendes biblisches Wort hält: Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst.
Nehmen wir einmal an, es gäbe ein Land, in dem dieses Wort von allen beherzigt wird, auch von denen, die mit Gott und Bibel nichts anzufangen wissen oder wollen, die aber dennoch überzeugt sind, dass kein Mensch, wirklich keiner, mehr oder weniger wert ist als der andere, sprich: als man selbst.
Nehmen wir einmal an, es gäbe ein Land, in dem Flüchtlingen mit ihrem Schmerz über den Verlust ihrer Heimat und ihrer Angehörigen nicht noch verhohlene oder unverhohlene Feindseligkeiten entgegenschlagen, sondern Respekt, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Nehmen wir einmal an, es gäbe ein Land, in der die Sorge um das Wohl der Flüchtlinge größer ist als darum, selbst zu verarmen.
Nehmen wir einmal an, niemand würde dies für einen frommen Wunschgedanken, eine naive Milchmädchenrechnung oder weit hergeholte Utopie halten.
Nehmen wir einmal an, es gäbe jemanden, der so ein Land kennt.
Ich würde ihn nach dem Weg fragen und zöge dorthin.
Andrea Wilke, Referentin im Bischöflichen Ordinariat Erfurt, Thüringische Landeszeitung, 01.09.2013

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