2010/12/23

Cambine Adventskalender 18

Leise rieselt der Schnee

Als Kind hat unsereins natürlich auch Klavierunterricht gehabt und dabei mindestens fünf Klavierlehrerinnen verbraucht. Doch trotz des Verbrauchs von mindestens fünf Klavierlehrerinnen kann ich bis heute nur ein einziges Weihnachtslied auf dem Klavier spielen: Alle Jahre wieder, kaum dass am Weihnachtsbaume die Lichter brennen: “Leise rieselt der Schnee”. Klavier besitzen wir längst keines mehr, bei einem solchen Repertoire lohnt es sich nun wirklich nicht, sich das ganze Jahr die Stube mit einem sperrigen Tastenkasten zu blockieren. Allerdings, jetzt hier im Erzgebirge haben wir doch wieder ein kleines, sogenanntes Harmonium in der Stubenecke stehen; ich meine so ein Ding, wo man, wie früher bei den Nähmaschinen – hier allerdings mit beiden Füßen – unentwegt unten treten muss, damit sich oben etwas rührt, beziehungsweise bei Tastendruck gewisse Töne erschallen. “Harmonium und Männerchor, so stell ich mir die Hölle vor”, soll der alte Kreuzkantor Mauersberger gesagt haben. Freilich, bei uns nicht Männerchor, sondern Familienkreis, einschließlich Denny-Oma. Nun haben in dem Musikkasten freilich auch schon Mäuse gewohnt. Und feindlich ist die Maus der Kunst, vor allem der höheren Kunst, vor allem die Erzgebirgsmaus. Trotz hektischen beidfüßigen Auf-der-Stelle-Tretens unten im Pedal geben gewisse Tasten nur schwachen, respektive gar keinen Laut. Und dann ist da noch dieses, schon in der Kindheit gefürchtete b in der Notenschrift, das plötzlich zur Bedienung von schwarzen Tasten auffordert. Kurzum, da die Familie singt (die Enkel als Bestandteil einer nicht mehr persönlich zu gesanglicher Äußerung fähigen Zukunft natürlich anderweitig beschäftigt) – gibt es ausgerechnet bei den wichtigsten Stellen wie: in den Herzen ist's warm/still schweigt Kummer und Harm besonders disharmonische Harmoniumaussetzer. Und während die Familie hört, wie furchtbar ich spiele, höre ich, wie furchtbar die Familie singt. Doch gerade dieses ins Leere ausschwingende Ganz-Alleine-Singen gibt unserem familienbedingt nun einmal bescheidenen Beitrag zusätzlich noch etwas unbedingt Glaubhaftes, eine so sonst kaum geäußerte, besondere Verlorenheit. Die altertümelnde Wendung still schweigt Kummer und Harm ist da plötzlich weit entfernt vom Ich-bin-fit-Getue der Okay-Gesellschaft – drückt also unsere wirkliche Angst, unsere wirkliche Sehnsucht nach Geborgenheit aus. (Das Wort Harm ist übrigens nicht völlig synonym mit Kummer, sondern bedeutet – nach Adelung – anhaltende, hochgradige Betrübnis).
Jedenfalls bin ich meinen, nun schon vor fünfzig Jahren so leichtsinnig verbrauchten Klavierpädagoginnen nun doch zu großem Dank verpflichtet. Und wenn ich alljährlich wieder wie wild in die Pedalen trete und abermals die Töne aussetzen und ich aus Furcht vor den schwarzen Tasten massiv daneben greife, glänzet tatsächlich von draußen der weihnachtliche, sprich: tief verschneite Wald herein – halb bedrohlich und halb zu Verstehen gebend, wie gut wir es eigentlich haben in unserer Erzgebirgsstube: Freue Dich, Christkind kommt bald. Und selbst wenn es zu Weihnachten wie immer zufällig regnet, herrscht Weihnachten trotzdem Winter, schon von der Kindheit her: still und starr ruht der See. Ein Phänomen, das bereits anzeigt, wie sehr wir eigentlich Weihnachten brauchen – damit es endlich einmal stille wird:
Leise rieselt der Schnee...



Diesen Text des Schriftstellers Thomas Rosenlöcher habe ich aus dem Kalender "Sächsische Heimat 2008" des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz übernommen.

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